Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), Deutscher Dichter und Dramatiker, Naturforscher - Mystiker Man rühmt das achtzehnte Jahrhundert, daß es sich hauptsächlich mit Analyse abgegeben; dem neunzehnten bliebt nun die Aufgabe, die falschen obwaltenden Synthesen zu entdecken und deren Inhalt aufs neue zu analysieren. Man sagt: "Eitles Eigenlob stinket". Das mag sein; was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publikum keine Nase. Der Fehler schwacher Geister ist, daß sie im Reflektieren sogleich vom Einzelnen ins Allgemeine gehen, anstatt daß man nur in der Gesamtheit das Allgemeine suchen kann. Alles ist einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter, als zu begreifen ist. Zensur und Preßfreiheit werden immerfort miteinander kämpfen. Zensur fordert und übt der Mächtige, Preßfreiheit verlangt der Mindere. Jener will weder in seinen Planen noch seiner Tätigkeit durch vorlautes, widersprechendes Wesen gehindert, sondern gehorcht sein; diese wollen ihre Gründe aussprechen, den Ungehorsam zu legitimieren. Dieses wird man überall geltend finden. Das Manierierte ist ein verfehltes Ideelle, ein subjektiviertes Ideelle; daher fehlt ihm das Geistreiche nicht leicht. Die Kunst ist ein ernsthaftes Geschäft, am ernsthaftesten, wenn sie sich mit edlen heiligen Gegenständen beschäftigt; der Künstler aber steht über der Kunst und dem Gegenstande: über jener, da er sie zu seinen Zwecken braucht, über diesem, weil er ihn nach eigner Weise behandelt. Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere, das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen. Drei Klassen von Narren: die Männer aus Hochmut, die Mädchen aus Liebe, die Frauen aus Eifersucht. Die Wirksamkeiten, auf die wir achten müssen, wenn wir wahrhaft gefördert sein wollen, sind: vorbereitende, begleitende, mitwirkende, nachhelfende, fördernde, verstärkende, hindernde, nachwirkende. Im Betrachten wie im Handeln ist das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dies läßt sich im Leben wie im Wissen wenig leisten. Man tut nicht wohl, sich allzulange im Abstrakten aufzuhalten. Das Esoterische schadet nur, indem es exoterisch zu werden trachtet. Leben wird am besten durchs Lebendige belehrt. Warum man doch ewige Mißreden hört? Sie glauben sich alle etwas zu vergeben, wenn sie das kleinste Verdienst anerkennen. Wie kann man sich selbst kennenlernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen Zuständen gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwürdig erscheinen müßte. Daß die Naturforscher nicht durchaus mit mir einig werden, ist bei der Stellung so verschiedener Denkweisen ganz natürlich. Die Gelehrten sind meist gehässig, wenn sie widerlegen; einen Irrenden sehen sie gleich als ihren Todfeind an. Das Christentum steht mit dem Judentum in einem weit stärkern Gegensatz als mit dem Heidentum. Es ist keine Kunst, eine Göttin zur Hexe, eine Jungfrau zur Hure zu machen; aber zur umgekehrten Operation, Würde zu geben dem Verschmähten, wünschenswert zu machen das Verworfene, dazu gehört entweder Kunst oder Charakter. Die eigentümliche Weise, wie der einzelne sein vergangenes Leben betrachtet, kann daher niemand mit ihm teilen; wie uns der Augenblick sonst nicht genügte, so genügen um nun die Jahre nicht, und da der Abschluß am Ende mit unsern Wünschen meistens nicht übereinstimmt, so scheint uns der ganze Inhalt der Rechnung von keinem sonderlichen Wert: wie denn gerade dadurch die weisesten Menschen verleitet wurden, auszusprechen, daß alles eitel sei. Wer hätte mit mir Geduld haben sollen, wenn ich's nicht gehabt hätte? Der Kredit ist eine durch reale Leistungen erzeugte Idee der Zuverlässigkeit. Wie kann der Charakter, die Eigentümlichkeit des Menschen, mit der Lebensart bestehen? Es gibt auch Afterkünstler: Dilettanten und Spekulanten; jene treiben die Kunst um des Vergnügens, diese um des Nutzens willen. Ein Phänomen, ein Versuch kann nichts beweisen; es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr je älter sie ist, je gewohnter man sie ist, desto mehr wirkt sie. Ich kann das Predigen nicht vertragen; ich glaube, ich habe in meiner Jugend mich daran übergessen. Die Alten vergleichen die Hand der Vernunft. Die Vernunft ist die Kunst der Künste, die Hand die Technik alles Handwerks. Denke nur niemand, daß man auf ihn als den Heiland gewartet habe! Glaube ist Liebe zum Unsichtbaren, Vertrauen aufs Unmögliche, Unwahrscheinliche. Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten. Das Schwierige leicht behandelt zu sehen gibt uns das Anschauen des Unmöglichen. Zwei eklektische Philosophen könnten demnach die größten Widersacher werden, wenn sie, antagonistisch geboren, jeder von seiner Seite sich aus allen überlieferten Philosophien dasjenige aneigneten, was ihm gemäß wäre. Sehe man doch nur um sich her, so wird man immer finden, daß jeder Mensch auf diese Weise verfährt und deshalb nicht begreift, warum er andere nicht zu seiner Meinung bekehren kann. In den Werken des Menschen wie in denen der Natur sind eigentlich die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert. Der Irrtum ist viel leichter zu erkennen, als die Wahrheit zu finden; jener liegt auf der Oberfläche, damit läßt sich wohl fertig werden; diese ruht in der Tiefe, danach zu forschen ist nicht jedermanns Sache. Sind wir ja eben deshalb da, um das Vergängliche unvergänglich zu machen. Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. Das Kind erscheint als Realist; denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein der Birnen und Äpfel als von dem seinigen. Der Jüngling, von innern Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken, sich vorfühlen: er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Skeptiker zu werden, hat der Mann alle Ursache; er tut wohl, zu zweifeln, ob das Mittel, das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln, im Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu erhalten, damit er nicht nachher sich über eine falsche Wahl zu betrüben habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mystizismus bekennen. Er sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint: das Unvernünftige gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich unerwartet ins gleiche. Daß Menschen dasjenige noch zu können glauben, was sie gekonnt haben, ist natürlich genug; daß andere zu vermögen glauben, was sie nie vermöchten, ist wohl seltsam, aber nicht selten. Die Vorsicht ist einfach, die Hinterdreinsicht vielfach. Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde. Es ist von einem Experiment zu viel gefordert, wenn es alles leisten soll. Konnte man doch die Elektrizität erst nur durch Reiben darstellen, deren höchste Erscheinung jetzt durch bloße Berührung hervorgebracht wird. Die Natur auffassen und sie unmittelbar benutzen, ist wenig Menschen gegeben; zwischen Erkenntnis und Gebrauch erfinden sie sich gern ein Luftgespinst, das sie sorgfältig ausbilden, und darüber den Gegenstand zugleich mit der Benutzung vergessen. Wer freudig tut und sich des Getanen freut, ist glücklich Der Mystizismus ist die Scholastik des Herzens, die Dialektik des Gefühls. Mir wird, je länger ich lebe, immer verdrießlicher, wenn ich den Menschen sehe, der eigentlich auf seiner höchsten Stelle da ist, um der Natur zu gebieten, um sich und die Seinigen von der gewalttätigen Notwendigkeit zu befreien, wenn ich sehe, wie er aus irgendeinem vorgefaßten falschen Begriff gerade das Gegenteil tut von dem, was er will, und sich alsdann, weil die Anlage im ganzen verdorben ist, im einzelnen kümmerlich herumpfuschet. Vom Verdienste fordert man Bescheidenheit; aber diejenigen, die unbescheiden das Verdienst schmälern, werden mit Behagen angehört. Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn. Das Erste und Letzte, was vom Genie gefordert wird, ist Wahrheitsliebe. Ein großes Unheil entspringt aus den falschen Begriffen. Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer lächerlich. Es würde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Kompliment gemacht hat, wenn er wüßte, wie komisch das aussieht. Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke. Wer keine Liebe fühlt, muß schmeicheln lernen, sonst kommt er nicht aus. Die Welt ist eine Glocke, die einen Riß hat: sie klappert, aber klingt nicht. Was ist das für eine Zeit, wo man die Begrabenen beneiden muß? Gerechtigkeit: Eigenschaft und Phantom der Deutschen. Die Meisterschaft gilt oft für Egoismus. Es ist soviel gleichzeitig Tüchtiges und Treffliches auf der Welt, aber es berührt sich nicht. Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat. Die schönste Metempsychose ist die, wenn wir uns im andern wieder auftreten sehn. Gescheite Leute sind immer das beste Konversationslexikon. Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt. Denn die Götter lehren uns ihr eigenstes Werk nachahmen; doch wissen wir nur, was wir tun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen. Es ziemt sich dem Bejahrten weder in der Denkweise noch in der Art, sich zu kleiden, der Mode nachzugehen. Höchst bemerkenswert bleibt es immer, daß Menschen, deren Persönlichkeit fast ganz Idee ist, sich so äußerst vor dem Phantastischen scheuen. Ich glaube einen Gott! - Dies ist ein schönes, löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden. Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat. Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist im Notfall auch mit ihnen auszukommen. Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muß entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewußtsein das neue Rollenfach übernehmen. Mut und Bescheidenheit sind die unzweideutigsten Tugenden; denn sie sind von der Art, daß Heuchelei sie nicht nachahmen kann. Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen wissen. Alles, was entsteht, sucht sich Raum und will Dauer; deswegen verdrängt es ein anderes vom Platz und verkürzt seine Dauer. Es ist nichts inkonsequenter als die höchste Konsequenz, weil sie unnatürliche Phänomene hervorbringt, die zuletzt umschlagen. Der Irrtum ist recht gut, solange wir jung sind; man muß ihn nur nicht mit ins Alter schleppen. Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen ist das wenigste übriggeblieben. Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei. Die Schönheit: jede [?] milde, hohe Übereinstimmung alles dessen, was unmittelbar, ohne Überlegen und Nachdenken zu erfordern, gefällt. Man würde einander besser kennen, wenn sich nicht immer einer dem andern gleichstellen wollte. Wem die Natur ihr offenes Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin: die Kunst. Wer viel mit Kindern lebt, wird finden, daß keine äußere Einwirkung auf sie ohne Gegenwirkung bleibt. Am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen. Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur allzubald in Nachteile verwandeln. Die außerordentlichen Männer des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts waren selbst Akademien, wie Humboldt zu unserer Zeit. Als nun das Wissen so ungeheuer überhand nahm, taten sich Privatleute zusammen, um, was den Einzelnen unmöglich wird, vereinigt zu leisten. Das Altertum setzen wir gern über uns, aber die Nachwelt nicht. Nur ein Vater neidet seinem Sohn nicht das Talent. Suche nicht vergebne Heilung! Unsrer Krankheit schweres Geheimnis Schwankt zwischen Übereilung Und zwischen Versäumnis. Die gewöhnlichen Theaterkritiken sind unbarmherzige Sündenregister, die ein böser Geist vorwurfsweise den armen Schächern vorhält ohne hülfreiche Hand zu einem bessern Wege. Jeder Mensch fühlt sich privilegiert. Diesem Gefühl widerspricht 1. die Naturnotwendigkeit, 2. die Gesellschaft. ad 1. Der Mensch kann ihr nicht entgehen, nicht ausweichen, nichts abgewinnen. Nur kann er durch Diät sich fügen und ihr nicht vorgreifen. ad 2. Der Mensch kann ihr nicht entgehen, nicht ausweichen; aber er kann ihr abgewinnen, daß sie ihn ihre Vorteile mitgenießen läßt, wenn er seinem Privilegiengefühl entsagt. Ein durchgreifender Advokat in einer gerechten Sache, ein durchdringender Mathematiker vor dem Sternenhimmel erscheinen beide gleich gottähnlich. Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und unsere Fehler ausgleicht. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind. So eigensinnig widersprechend ist der Mensch: zu seinem Vorteil will er keine Nötigung, zu seinem Schaden leidet er jeden Zwang. Der Tag gehört dem Irrtum und dem Fehler, die Zeitreihe dem Erfolg und dem Gelingen. Ob denn die Glücklichen glauben, daß der Unglückliche wie ein Gladiator mit Anstand vor ihnen umkommen solle, wie der römische Pöbel zu fordern pflegte? Das Absurde, Falsche läßt sich jedermann gefallen: denn es schleicht sich ein; das Wahre, Derbe nicht: denn es schließt aus. Jedermann hat seine Eigenheiten und kann sie nicht loswerden; und doch geht mancher an seinen Eigenheiten, oft an den unschuldigsten, zugrunde. Das Wahre, Gute und Vortreffliche ist einfach. Autorität, daß nämlich etwas schon einmal geschehen, gesagt oder entschieden worden sei, hat großen Wert; aber nur der Pedant fordert überall Autorität. Wenn die Menschen recht schlecht werden, haben sie keinen Anteil mehr als die Schadenfreude. Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein. Eine falsche Lehre läßt sich nicht widerlegen, denn sie ruht ja auf der Überzeugung, daß das Falsche wahr sei. Aber das Gegenteil kann, darf und muß man wiederholt aussprechen. Der liebt nicht, der die Fehler des Geliebten nicht für Tugenden hält. Lehrbücher sollen anlockend sein; das werden sie nur, wenn sie die heiterste, zugänglichste Seite des Wissens und der Wissenschaft hinbieten. |