Buchauszug aus Erich Fromm


Die Kunst des Liebens


In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft hat sich die Bedeutung des Begriffs Gleichheit geändert. Man versteht heute darunter die Gleichheit von Automaten, von Menschen die ihre Individualität verloren haben. Gleichheit bedeuten heute "Dasselbe-Sein" und nicht mehr "Eins-Sein".

Es handelt sich um die Einförmigkeit von Abstraktionen, von Menschen, die den gleichen Job haben, die die gleichen Vergnügungen haben, die gleichen Zeitungen lesen und das gleiche fühlen und denken.

In dieser Hinsicht sollte man auch gewisse Errungenschaften, die im allgemeinen als Zeichen unseres Fortschritts gepriesen werden, mit Skepsis betrachten, wie etwa die Gleichberechtigung der Frau. Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, dáß ich nicht gegen die Gleichberechtigung habe; aber die positiven Seiten dieser Gleichheitstendenz dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier auch um die Tendenz zur Ausmerzung von Unterschieden handelt.

Man erkauft sich die Gleichheit eben zu dem Preis, daß die Frauen gleichgestellt werden, weil sie sich nicht mehr von den Männern unterscheiden. Die These der Aufklärungsphilosophie, ame n'a pas de sexe (die Seele hat kein Geschlecht), gilt heute ganz allgemein, Die Polarität der Geschlechter ist im Verschwinden begriffen, und damit verschwindet auch die erotische Liebe, die auf dieser Polarität beruht.

Männer und Frauen werden sich gleich und sind nicht mehr gleichberechtigt als entgegengesetzte Pole. Die heutige Gesellschaft predigt das Ideal einer nicht-individualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome braucht, die sich untereinander völlig gleichen, damit sie im Massenbetrieb glatt und reibungslos funktionieren, damit alle den gleichen Anweisungen folgen und jeder trotzdem überzeugt ist, das zu tun, was er will. Genauso wie die moderne Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse verlang, so verlangt auch der gesellschaftliche Prozeß die Standardisierung des Menschen, und diese Standardisierung nemmt man dann "Gleichheit".


Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakter-Orientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu einem einzigen "Objekt" der Liebe bestimmt.

Wenn jemand nur eine einzige andere Person liebt und ihm alle übrigen Mitmenschen gleichgültig sind, dann handelt es sich bei seiner Liebe nicht um Liebe, sondern um eine symbiotische Bindung oder um einen erweiterten Egoismus.

Trotzdem glauben die meisten Menschen, liebe komme erst durch ein Objekt zustande und nicht aufgrund einer Fähigkeit. Sie bilden sich tatsächlich ein, es sei ein Beweis für die Intensität ihrer liebe, wenn sie außer der geliebten Person nichts und niemanden lieben.

Weil man nicht erkennt, daß die Liebe ein Tätigsein, eine Kraft der Seele ist, meint man, man brauche nur das richtige Objekt dafür zu finden und alles andere gehe dann von selbst. Man könnte diese Einstellung mit der eines Menschen vergleichen, der gern malen möchte und der, anstatt diese Kunst zu erlernen, behauptet, er brauche nur auf das richtige Objekt zu warten, und wenn er es gefunden habe, werde er wunderbar malen können. Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben.

Wenn ich zu einem anderen sagen kann: "Ich liebe dich" muß ich auch sagen können ; "Ich liebe in dir auch alle anderen, ich liebe durch dich die ganze Welt, ich liebe in dir auch mich selbst". Wenn ich sage, die Liebe sei eine Orientierung, die sich auf alle und nicht nur auf einen einzigen Menschen bezieht, so heißt das jedoch nicht, daß es zwischen den verschiedenen Arten der Liebe keine Unterschiede gibt, die jeweils von der Art des geliebten Objekts abhängen.


Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt.

Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr "aktiver" Charakter zeigt sich auch darin, daß sie in allen ihren Formen stets folgende Grundelemente enthält: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.

Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben.

Sich für jemanden "verantwortlich" zu fühlen, heißt fähig und bereit sein zu antworten.

Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und seine einzigartige Individualität wahrzunehmen. Achtung bezieht sich darauf, daß man ein echtes Interesse daran hat, daß der andere wachsen und sich entfalten kann.

Achtung gibt es nur auf der Grundlage der Freiheit: L'amour est l'enfant de la liberté [Liebe ist ein Kind der Freiheit] heißt es in einem alten französischen Lied.

Es gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist.


Das Erlebnis der Vereinigung mit dem Menschen oder, religiös ausgedrückt, mit Gott ist keineswegs irrational. Es ist ganz im Gegenteil, wie Albert Schweitzer dargelegt hat, das Ergebnis des Rationalismus in seiner kühnsten und radikalsten Konsequenz. Es beruht auf unserem Wissen um die grundsätzlichen und nicht zufälligen Grenzen unserer Erkenntnis, auf unserem Wissen darum, daß wir das Geheimnis des Menschen und des Universums nie "begreifen" werden, daß wir es aber trotzdem im Akt der Liebe "erkennen" können.

Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis stehen miteinander in engem Zusammenhang. Sie bilden ein Syndrom von Einstellungen, die beim reifen Menschen zu finden sind, das heißt bei einem Menschen, der seine eigenen Kräfte produktiv entwickelt hat, der nur das haben will, was er sich selbst erarbeitet hat, der seine narzißtischen Träume von Allwissenheit und Allmacht aufgegeben und die Demut erworben hat, die auf einer inneren Stärke beruht, wie sie nur echtes produktives Tätigsein geben kann.

Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakter-Orientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu einem einzigen "Objekt" der Liebe bestimmt.

Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann: "Ich liebe dich", muß ich auch sagen können: "Ich liebe in dir auch alle anderen, ich liebe durch dich die ganze Welt, ich liebe in dir auch mich selbst."

Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und "Erkenntnis", das jedem anderen Wesen gilt, sowie den Wunsch, dessen Leben zu fördern.

Es ist geradezu kennzeichnend für sie, daß sie niemals exklusiv ist. Wenn sich in mir die Fähigkeit zu lieben entwickelt hat, kann ich gar nicht umhin, meinen Nächsten zu lieben.


Die Mutterliebe ist, wie bereits gesagt, die bedingungslose Bejahung des Lebens und der Bedürfnisse des Kindes.

An jedem Tag der Schöpfung sagt Gott eigens zu dem, was er geschaffen hat: "Es ist gut!" Diese besondere Bestätigung gibt in der mütterlichen Liebe dem Kind das Gefühl: "Es ist gut, geboren worden zu sein." Sie vermittelt dem Kind die Liebe zum Leben und nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben.

Die Mutter muß nicht nur die Loslösung des Kindes dulden, sie muß sie sogar wünschen und fördern.

Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen; Mutterliebe ist Liebe zum Hilflosen. So verschieden beide voneinander sind, ihnen ist doch gemein, daß sie sich ihrem Wesen nach nicht auf eine einzige Person beschränken.

Im Gegensatz zu diesen beiden Arten von Liebe steht die erotische Liebe. Hier handelt es sich um das Verlangen nach vollkommener Vereinigung, nach der Einheit mit einer anderen Person. Eben aus diesem Grund ist die erotische Liebe exklusiv und nicht universal; aber aus diesem Grund ist sie vielleicht auch die trügerischste Form der Liebe.

Zunächst einmal wird sie oft mit dem explosiven Erlebnis, "sich zu verlieben" verwechselt, mit dem plötzlichen Fallen der Schranken, die zwischen zwei Fremden bestanden.


Häufig wird die Exklusivität der erotischen Liebe mit dem Wunsch verwechselt, vom anderen Besitz zu ergreifen. Man findet oft zwei "Verliebte", die niemanden sonst lieben. Ihre Liebe ist dann in Wirklichkeit ein Egoismus zu zweit; es handelt sich dann um zwei Menschen, die sich miteinander identifizieren und die das Problem des Getrenntseins so lösen, daß sie das Alleinsein auf zwei Personen erweitern.

Erotische Liebe ist zwar exklusiv, aber sie liebt im anderen die ganze Menschheit, alles Lebendige. Sie ist exklusiv nur in dem Sinn, daß ich mich mit ganzer Intensität eben nur mit einem einzigen Menschen vereinigen kann.


Die Liebe sollte im wesentlichen ein Akt des Willens, des Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines anderen Menschen zu binden.

Jemanden zu lieben, ist nicht nur ein starkes Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht die Grundlage für das Versprechen sein, sich für immer zu lieben. Ein Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden.


Insofern wir alle eins sind, können wir jeden auf die gleiche Weise im Sinne einer Nächstenliebe lieben. Aber insofern wir auch alle voneinander verschieden sind, setzt die erotische Liebe gewisse spezifische, höchst individuelle Elemente voraus, wie sie nur zwischen gewissen Menschen und keineswegs zwischen allen zu finden sind.

Tatsächlich steckt er [Zynismus] hinter der Auffassung des Durchschnittsbürgers, der das Gefühl hat: "Ich wäre ja recht gern ein guter Christ - aber wenn ich damit ernst machte, müßte ich verhungern." Dieser "Radikalismus" läuft aber auf einen moralischen Nihilismus hinaus. Ein solcher "radikaler Denker" ist genau wie der Durchschnittsbürger ein liebesunfähiger Automat, und der einzige Unterschied zwischen beiden ist der, daß letzterer es nicht merkt, während ersterer es weiß und darin eine "historische Notwendigkeit" sieht. Ich bin der Überzeugung, daß die absolute Unvereinbarkeit von Liebe und "normalem" Leben nur in einem abstrakten Sinn richtig ist. Unvereinbar miteinander sind das der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugrunde liegende Prinzip und das Prinzip der Liebe.

Selbst, wenn man erkannt hat, daß das Prinzip des Kapitalismus mit dem Prinzip der Liebe an sich unvereinbar ist, muß man doch einräumen, daß der "Kapitalismus" selbst eine komplexe, sich ständig verändernde Struktur hat, in der immer noch recht viel Nicht-Konformität und persönlicher Spielraum möglich sind.

Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ob wir damit rechnen könnten, daß unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem in alle Ewigkeit fortdauern wird und daß wir gleichzeitig auf die Verwirklichung des Ideals der Nächstenliebe hoffen können.

Das Wesen der Liebe zu analysieren, heißt ihr allgemeines Fehlen heute aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.